Planung

Halberstadt (D), St. Martini (2012 - )

Die Orgel der St. Martini-Kirche in Halberstadt wurde 1592-96 von dem Halberstadter Orgelbauer David Beck (um 1540 - um 1606) für die Kapelle von Schloss Gröningen erbaut. Die alte Bischofsresidenz wurde 1586-94 im Auftrag des kunstliebenden Herzog Heinrich Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel zu einem der prächtigsten Renaissance-Bauwerke Deutschlands umgebaut und erweitert. Baumeister war Christoph Tendler, während die außerordentlich reiche dekorative Ausstattung laut Forschung von Dr. Dorothea Schröder sehr wahrscheinlich von dem berühmten Bildhauer Ebert Wulff d.J. und seiner Werkstatt erschaffen wurde.

Wie das ganze Schloss, sollte auch die Orgel mit ihren 59 Registern und ihrem märchenhaften Dekor Erstaunen und Bewunderung hervorrufen. Von der Registerzahl her muss sie die größte Orgel der damaligen Zeit gewesen sein, und ihr Dekor (ursprünglich ein integraler Bestandteil der gesamten Kirchenausstattung) sucht bei Instrumenten nördlich der Alpen noch immer seinesgleichen. Das Schloss galt mit der Orgel und einem riesigen Weinfass (Fassungsvermögen mehr als 140.000 Liter) als Weltwunder, das viele Besucher anzog. Für die Abnahme der Orgel und ihre Einspielung lud der Herzog 53 namhafte Organisten aus ganz Deutschland ein. Eine Woche lang zeigten sie ihre Fähigkeiten und die schier unendlichen Möglichkeiten des Instrumentes. Michael Praetorius wurde der erste Organist der Schlosskapelle, und die erste Beschreibung der Orgel findet sich in dessen Syntagma Musicum, Bd. 2.

Etwa ab 1680 begann der Verfall des Schlosses. Im Jahr 1705 wurde die ebenfalls heruntergekommene Orgel unter der Leitung von Andreas Werckmeister durch Orgelbauer Christoph Contius ein erstes Mal gründlich überholt und teilweise den Auffassungen der damaligen Zeit angepasst. Einige Register wurden ersetzt, und das Instrument wurde nach Werckmeisters Anweisungen wohltemperiert gestimmt. Anlässlich dieser Arbeiten publizierte Werkmeister 1705 seine Schrift Organum Gruningense Redivivum, in der er den Zustand und viele Details der Orgel vor der Überholung, sowie die durchgeführten „Verbesserungen“ ausführlich beschreibt. Diese Quelle vermittelt uns viele für eine Rekonstruktion wertvolle Informationen. Im Jahr 1770 waren Schloss und Orgel offenbar weiter heruntergekommen. Die Orgel hatte keine Funktion mehr und wurde von Friedrich dem Großen der St. Martinikirche in Halberstadt geschenkt. Der preußische Adler mit den Buchstaben „F[redericus] R[ex]“ über dem Mittelturm des Prospektes erinnern noch immer daran.

Im Zusammenhang mit der Überführung baute Johann Christoph Wiedemann das Instrument ein erstes Mal gründlich um. Die Pedaltürme versetzte er so weit nach hinten, dass sie jetzt bündig mit dem Hauptwerksgehäuse stehen. Bei einem 1837 ausgeführten Neubau durch die Fa. Schulze aus Paulinzella wurde das Rückpositiv entfernt und dessen Gehäuse samt Prospektpfeifen für ein neues Instrument im benachbarten Dorf Harsleben verwendet. 1921 wurde in das Gehäuse in Halberstadt nochmals ein neues Instrument der Fa. Röver eingebaut, wobei die alten Prospektpfeifen glücklicherweise nicht mehr angeschlossen wurden. Bei Bombenangriffen im 2. Weltkrieg wurde das Gewölbe des Kirchenschiffes teilweise zerstört, so dass der Innenraum mehr als ein Jahr den Wettereinflüssen ungeschützt ausgesetzt war.

2006 wurde hat der französische Organist Jean-Charles Ablitzer die Orgel „wiederentdeckt“, was 2007 zur Gründung des Fördervereins Organum Gruningense Redivivum führte, der die Rehabilitierung dieses einzigartigen Instrumentes vorantreibt. Erste Forschungsarbeiten in Halberstadt, Harsleben und Langeln (bei Wernigerode, enthält noch Pfeifenwerk von Beck) wurden von Christian Lutz, Dietrich Kollmansperger und Christoph Lehmann durchgeführt, während Christine Lehmann ein ausführliches Archivstudium durchführte. Als die Röver-Orgel 2012 ausgebaut wurde, konnten Orgelbauer Jörg Dutschke und ich die beiden Gehäuse mit Prospektpfeifen in Halberstadt und Harsleben gründlich dokumentieren. Auf der Basis unserer Ergebnisse und der Archivarbeit von Christine Lehmann konnten wir erste neue Erkenntnisse präsentieren bezüglich des Originalzustands sowie des Zustands von Gehäuse und Empore um 1770. Wichtigstes Ergebnis war zweifellos, dass nicht nur einige, sondern alle Prospektpfeifen noch die originalen sind, und dass ihre ursprünglichen Funktionen aufgrund der Beschriftungen Becks noch weitestgehend zu rekonstruieren sind. Ebenfalls wichtig war die Erkenntnis, dass die Pedaltürme ursprünglich vorgeschoben waren. 2014 habe ich Montagefotos und Pläne des rekonstruierten Zustandes mit mehreren Emporenvarianten hergestellt. Auf dieser Basis wurde die Rückführung des Gehäuses von Harsleben nach Halberstadt und die Rekonstruktion des Originalzustandes von der Denkmalpflege genehmigt.  Die drei Bilder links zeigen die beiden Ausgangsbilder und die definitiv ausgewählte Variante. Im Jahr 2016 konnte ich nach Dokumentation der Pfeifen in Langeln und Besuchen mehrerer Vorbild-Orgeln ein Studium über die Mensuren der zu rekonstruierenden Orgel durchführen und auf einer Fachtagung präsentieren. 2018-19 folgte die Planung der Windladen, die ebenfalls auf einer Fachtagung diskutiert wurde.

Lemgo, St. Marien, 2008-10

Die Orgel wurde 1587-95 als einmanualiges Instrument von Georg Slegel erbaut. Die Klaviatur fing noch mit F an während die größte Pfeife etwa 8' lang war. Die Orgel stand also in der von Schlick bereits beschriebenen tiefen Stimmung, bei der ein c etwa wie ein modernes G klingt. Möglicherweise weil dies in Westfalen damals schon ein veraltetes Konzept war, muss die Orgel schon wenige Jahre nach ihrer Fertigstellung um 1600 von Hans Scherer d.Ä. zu einem „modernen“ zweimanualigen Instrument mit einem selbständigen Pedal umgebaut worden sein. Um 1670 fand ein erster großer Umbau statt, bei dem die heutigen Springladen eingebaut wurden. Nach weiteren Veränderungen im 19. Jahrhundert wurden die Pfeifen ausgebaut und um 1910 vernichtet. Nach zwei „Rekonstruktionsversuche“ im 20. Jahrhundert waren nur die Gehäuse, die Prospektpfeifen, die Springladen und Reste der Brustwerkslade noch alt. 2008-10 wurde ein neues Instrument eingebaut, das sich unter Beibehaltung der Springladen von 1670 so weit wie möglich dem Zustand von Scherer annähert.

Meine Aufgabe war die Dokumentation, die Forschung nach der Geschichte der Orgel und die Planung des neuen Zustandes. Für die Mensuren bin ich davon ausgegangen, dass alle Register, die man aufgrund der Dispositionen gleichartiger Slegel-Orgeln auch hier für das Instrument von 1595 unterstellen kann, nach Vorbildern der Familie Slegel oder verwandten niederländischen Traditionen wiederhergestellt werden. Für die Register in Scherer-Stil war die Orgel in Tangermünde das wichtigste Vorbild. Die Mensuren und Herstellungsmerkmale der Prospektpfeifen dieser Orgel stimmen genau mit denen in Lemgo überein. Eine spezielle Herausforderung war die Rekonstruktion der Barpfeife. Von diesem Register existieren nur noch Exemplare aus einer späteren Zeit, die offensichtlich nicht mehr die Bauweise des 16. und frühen 17. Jahrhundert aufweisen.  

Restaurator: Rowan West (Altenahr, D)